Von fremden zu eigenen Texten…
Übersetzerinnen und Übersetzer befassen sich tagein tagaus mit fremden Texten. Sie übersetzen, korrigieren, zweitlesen, lektorieren, überprüfen und recherchieren und dabei geht es ausschließlich um Schriftliches, dessen Autorin oder Autor nicht sie selbst sind. Zweifellos belastet es die Übersetzer:innen ja kaum, nur fremde Texte sozusagen ‚in den Händen zu haben‘. Zumindest in den meisten Fällen, wenn die Qualität des zu Übersetzendes nicht allzu sehr zu wünschen übriglässt. Einige Übersetzer:innen aber verlassen das Gebiet des ausschließlichen Fremdtexte-Übersetzens und werden zu Autoren und Autorinnen. Ihre sprachliche sowie gedankliche Fantasie verlässt die grauen Zellen und landet im eigenen PC als besonders gesichertes Eigengut. Nicht wenige von ihnen beweisen dabei, dass sie als Autor genauso talentiert sind und gekonnt mit der Sprache umgehen. Sie bringen eigene Ideen zu Papier, sie kreieren mit Bravour Geschehnisse und Schicksale fiktiver Helden und verspüren dabei einen besonderen Tatendrang sowie eine wachsende Freude. Sie sind nun ganz frei und unabhängig, gänzlich losgelöst von sämtlichen Textvorgaben, Glossaren und Fachterminologie. So beflügelt ergreife auch ich immer meine Maus und genieße das Klappern der Tasten auf meiner alten Tastatur…
Die Helfer
Emma liegt in ihrem Bett und starrt zur Decke. Was soll sie SONST tun? Den Kopf kann sie nicht bewegen. Eigentlich kann sie überhaupt nichts mehr bewegen. Eins der wenigen Dinge, die nicht eingegipst sind, ist ihr Gesicht. Ich bin eine Mumie. Sie hebt ihre Augen zu dem kühlen Weiß der Zimmerdecke. Weiß, nichts anderes als endloses kaltes Weiß. Emma fröstelt. Wie soll ich DAS aushalten? Lebendig begraben, ja, das bin ich jetzt. Der alte Arzt meinte noch, ich hatte Glück, es hätte ganz anders enden können. Was nennt er hier Glück? Tauschen würde er nicht. Vier Wochen unter Tonnen von Gips lebendig begraben. Sie spürt einen schweren Druck auf der Brust. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Die kleinen salzigen Tropfen rutschen über ihr Gesicht hinunter. Niemand ist da, der die Tränen abwischt. Der ihre Hand hält, der sagt, alles wird gut, du wirst wieder laufen können. Sie liegt tonnenschwer tausende Kilometer von zuhause weg.
Ski laufen! Emma sieht die Piste vor sich. Der Schnee glitzert im strahlenden Sonnenlicht wie tausende Diamanten. Sie fliegt wieder nahezu perfekt an den Toren vorbei, durch das Diamantenfeld… Ihre Tränen versiegen. Sie spürt ein schwaches Lächeln im Gesicht. Sie sieht den Schnee, die Piste, das Glitzern, die Tannen links und rechts. Sie ist wieder mitten drin. Sie spürt die rasende Geschwindigkeit, das Vibrieren ihrer Schenkel, den eisig brennenden Windzug. Sie fliegt und zeichnet ihre Flugkurven, sie hebt ab und betrachtet das strahlend weiße Diamantenfeld unter sich…
‚Wie geht es Ihnen?‘
Emma erschreckt. Die Realität holt sie zurück. Ihre Augen suchen nach der Stimme. Ein fremdes Gesicht neigt sich dem ihrem. Ein warm lächelndes Gesicht.
‚Kann ich etwas für Sie tun?‘
Jetzt nimmt Emma das faltige Labyrinth im Gesicht über sich wahr. Das innige Lächeln unter der grauen Haarlocke, die der Schwester ins Gesicht fällt.
‚Ich bringe Ihnen einen Tee,‘ lächelt das Gesicht. ‚Einen besonderen Tee. Er wird Ihnen guttun.‘
Bevor Emma reagieren kann, verschwindet das Gesicht und sie hört das leise Schließen der Tür. Sie ist leicht verwirrt. Sie war ganz weg, in einer anderen Welt. Dort, wo sie mal glücklich war. Warum bin ich nun hier? Sie versucht den Oberkörper anzuheben und schreit auf. Die Härte des Gipsverbands wirft sie zurück in die Wirklichkeit. Ein Schrecken zieht durch ihre verbundenen Glieder wie ein Blitz. Noch bevor die tiefe Angst sie ergreifen kann, hört sie wieder die Tür.
‚Probieren Sie, Emma.‘
Emma spürt einen warmen Luftzug. Ein Strohhalm berührt ihre Lippen. Sie zögert kurz. Dann zieht sie vorsichtig die Luft ein, sie saugt sie in sich hinein und die ersten Tropfen erreichen ihre Lippen. Eine wohltuende Wärme breitet sich in ihrem Mund aus. Ein süßlicher, geheimnisvoller Duft hüllt sie förmlich ein.
‚Schmeckt er Ihnen?‘ Emmas Augen suchen nach den Falten. Ihre Lider nicken und sie spürt, wie ihre Mundwinkel auseinanderfallen. Sie lächelt.
‚Was ist das?‘
‚Bergblütentee. Er ist selten und wirkt nicht immer. Für Sie, Emma, ist er genau richtig.‘ Leise Schritte entfernen sich und Emma hört das Schließen der Tür nicht mehr. Sie nimmt ein leichtes Rucken wahr, eine leichte Bewegung, als ihr steifer Körper hochgehoben wird und plötzlich über dem Bett schwebt. Er fühlt sich so leicht an. Wie ein Strauß trockener Blüten, getragen vom Wind. Emma bewegt ihre Augen nach rechts und ihr Körper wendet sich ganz sanft zur rechten Seite. Sie kann die grünen Wände und den Zimmerboden sehen. Sie sieht darauf etwas glitzern. Neben ihrem Bett liegen winzige Diamanten. Emmas Herz hämmert heftig gegen ihre Rippen. Sie ist glücklich. Sie ist im Himmel.
Satt gesehen senkt sie ihre Augen und ihr Körper landet ganz behutsam wieder im Bett. Jetzt WEISS sie. Sie wird es schaffen.
(Kurzgeschichte von Lenka Sieber)